Kunstbulletin 10/2016
Esther Kempf — Kunst im Windschatten des Zwecks
Die Ausstellung heisst ‹M wie Martha›!– das M braucht einen laut ausgesprochenen Namen, wie Martha, um sich selbst als M zu vergewissern. Alle 26 Buchstaben des Alphabets haben entsprechende Begleiter, deren Namen so beiläufig und genau sind wie die Kunst von Esther Kempf selbst.
Zürich — In dem kurzen Video ‹ADE ADA›, 2016, von Esther Kempf (*1980, Bafut, Kamerun) wurde mit den Buchstaben A,D,E und deren Tönen aus der C-Dur-Tonleiter ein Abschiedslied geschrieben und gespielt, für Ada Lovelace, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert die allererste Programmiersprache schrieb. Situationen, welche die Künstlerin in der städtischen Umgebung vorgefunden hat, mussten als Fotos in die Galerie gelangen. Dazu gehören ‹Martha›, 2016, und ‹Messages›, 2016. Zu sehen sind unvorhersehbare Zusammenkünfte von Melonenschalen auf Lichtschaltern, Wellpappen, die an Fassaden lehnen, oder Weissblechdosen, die sehr entschieden um Edelstahlstangen herumgedrückt wurden.
Die unmittelbaren Dinge in der Ausstellung von Kempf sind Taschentücher, Pullover, Zettel und ein Schränkchen. Bevor diese Gegenstände in die Galerie wechselten, hat ein entschiedenes Benutzungsprogramm sehr genau deren Materialien, Grössen und Formen bestimmt. Bis in die letzten Falten eines Taschentuchs, bis in das Papier beschriebener Zettel und das Holz gebauter Möbel hinein ist alles vorfabriziert und durchgestaltet. Bevor man die Augen öffnet, hat immer schon jemand die Wolle, Farbe und Form eines Pullovers bestimmt. Nicht zuletzt sind auch die Dinge und Formen der Kunst sehr weitgehend durchentschieden. Genau in diesem Zwischenraum beginnt die Arbeit von Esther Kempf. In einem früheren Werk hat sie Türen und bewegliche Raumelemente so verschnürt, dass erst das Öffnen und Schliessen der Tür die Situation offenbarte oder verschwinden liess. Bei Brigitte Weiss zeigt Kempf einen Schrank ‹Next to me›, 2016, dessen Griffe sich, um Armlänge versetzt, neben dem Schränkchen befinden. Öffnen die Besuchenden die Schublade, finden sie darin die «ehrlichen» Reste genau dieses Schrankumbaus. Zwischen Nasenputzen und konkreter Malerei faltet die Künstlerin die weissen Taschentücher halbierend, viertelnd, achtelnd und sechzehntelnd zusammen und bemalt die dabei entstehenden Teilflächen in der Reihenfolge der ersten, zweite, dritten und vierten Faltung mit den Grundfarben. In der Galerie hängen die Taschentücher nun in der Manier konkreter Kunst an der Wand. Beim Zusammenlegen von sechs gleichen, aber verschiedenfarbigen Pullovern entstehen Falt- und Farbformen. Die wurden zu einem einzigen Pullover zusammennäht, der nun am Kleiderbügel in der Galerie hängt. Als ‹Consequence of Order›, 2016, sind ihre Taschentücher und Pullover zwingend schön.
Text: Fritz Balthaus
Ausstellung "M wie Martha", Galerie Brigitte Weiss